BITNACHT

16/10/2022

In der Oberstufe konnte man mich vor dem Klassenzimmer auf dem Fußboden sitzend antreffen, während ich das letzte Drittel des Herrn der Ringe las. Keine Abiturprüfung war wichtiger als die Neugier auf Tolkiens Beschreibungen von Minas Tirith und dem Banner der Lady Arwen. Aber das Simarilion las sich für mich immer wie: „Name1 hatte dann in Name2 mit Name3 eine Auseinandersetzung, die in Name4 dazu führte, dass Name5 für alle Name6 in Name7 bei der Ankunft von Name8 an die Ereignisse in Name9 erinnert wurden. Das brachte Name10, der von Name11, der Tochter von Name12 und Name13, dem Titel1 von Name14 dazu …“ Das war in meinen Augen ziemlicher Käse und ich gelangte zur Überzeugung, dass es einen guten Grund gab, warum Tolkien zu Lebzeiten nur die sechs Bücher vom Herrn der Ringe und den Hobbit an die breite Öffentlichkeit gelangen lies.

Das sind gute Voraussetzungen, um „Ringe der Macht“ zu genießen, ohne von jeder Kleinigkeit, die nicht mit dem Mythos übereinstimmt aus der Bahn geworfen zu werden. Und diese Unstimmigkeiten sind zahlreich und die Auswirkungen weitreichend. Die meisten will ich hier nicht nennen, aber das Elrond offenbar Elfenfrauen nicht besonders interessant findet und Galadriel in den ersten sieben Episoden weniger besonnen vorgeht als Conan der Barbar, ist nicht leicht zu schlucken. Ebenso ist die Idee, dass die Elben glaube unterzugehen, wenn sie kein Echtsilber bekommen etwas absurd. Mehr als einmal glaubte ich zuerst, die Figuren würden lügen, weil mir die Erklärungen zu unglaubwürdig  schienen oder sich Einzelne zu närrisch verhielten.

Von derlei Schwächen und den oftmals brutal vereinfachten Dialogen abgesehen glänzt Ringe der Macht aber mit einer großen Strahlkraft. Die Optik kann sich mit Peter Jacksons Filmreihe messen und auch die Filmmusik ist auf sehr hohem Niveau. Die Serie ist auch in den Hauptrollen nicht unbedingt gefällig besetzt. Der Typ und die Ausstrahlung der Darsteller passen oft nicht zur gängigen Illustrationen. Richtig gut passt allerdings Daniel Weyman, den ich wirklich gerne auch im Herrn der Ringe in dieser Rolle sehen würde. Ebenfalls klassisch treffend besetzt sind Markella Kavenagh und Lloyd Owen. Im Rahmen der Möglichen die das Drehbuch lässt, geben die Schauspieler ihren Figuren praktisch ausnahmslos eine überzeugende Lebendigkeit und tragfähige Emotionen. 

Der Schnitt ist streckenweise etwas wirr. In Action-Sequenzen fragt man sich manchmal, worum es gerade überhaupt geht und Reisen werden teilweise so verkürzt, dass Mordor, Lindon und Eregion für einen Moment nur Stadteile von Mittelerde-City zu sein scheinen. Auf der anderen Seite tragen lange Passagen (und eventuell die ganze Episode 7) überhaupt nicht zur Entwicklung der Geschichte bei.

Ringe der Macht ist nicht perfekt, aber was Fernsehunterhaltung angeht setzt es im Bereich Fantasy durchaus Maßstäbe und gibt einen Grund, sich mit einer Schale Popcorn auf dem Sofa niederzulassen.